Bitte recht freundlich!

Bloggerfreund Jules van der Ley (Trithemius) hat, selbst angeregt durch einen Beitrag von Manfred Voita mit dem Titel NASE VOLL,  die wunderbare Idee eines Erzählprojekts „ DIE LÄDEN MEINER KINDHEIT “ auf seinem Blog gestartet. Es geht um Kindheitserinnerungen an alte Geschäfte mit ihren Waren, die es heute längst nicht mehr gibt, an Gerüche, die lebenslang starke Erinnerungsträger bleiben, an die Scheibe Fleischwurst beim Metzger, an Margarine-, oder Haferflocken-Sammelbildchen…

Ich bin in den 50er Jahren in Buer-Erle aufgewachsen, einem kleinen grauen Stadtteil Gelsenkirchens, der geprägt war vom Bergbau. Mit einfachen Menschen rund um die Zeche Graf Bismarck: Bergleute, Schrebergärtner, Taubenzüchter, Kumpel…
Hier die zweite Erinnerung an „Die Läden meiner Kindheit“

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FOTO GRUNDMANN (50er Jahre) in Gelsenkirchen-Buer-Erle

Einen eigenen Fotoapparat besaßen wir nicht, was heute in der Nachbetrachtung natürlich zu bedauern ist. So gibt es nicht ein einziges Bild von mir aus frühen Kindertagen. Ich kann mich auch nicht erinnern, damals in Erle jemanden, bis auf die Familie unseres Hauswirtes, gekannt zu haben, der schon einen Fotoapparat besaß.
Irgendwo einmal mit auf Bild zu kommen, war schon recht selten, es sei denn, der örtrliche Fotograf Herr Grundmann kam mit Stativ und großem Blitzlichtgerät zu Klassenaufnahmen in die Schule.

Das Fotografiertwerden im Fotostudio Grundmann selbst war für mich immer etwas Besonderes, da so etwas nur zu bestimmten Anlässen stattfand: der erste Schultag, die Konfirmation….
Später dann das Passfoto, ein Bild für den Führerschein, und viel später dann vielleicht das erste Portrait – für die Freundin.
Irgendwie war Herr Grundmann für die Menschen aus Gelenkirchen-Erle ein (Er-)Lebensbegleiter.

Ordentliche Kleidung, sauberer Hals, geputzte Schuhe. Um die Frisur noch einmal fürs Foto zu richten, hielt Herr Grundmann stets einen Spiegel mit Kamm und Bürste bereit.

Zum Vergrößern bitte anklicken.

Herr Grundmann

Dann stand man, gut ausgeleuchtet, sich für den kurzen Moment wie ein Filmstar fühlend, dem stets freundlichen Fotografen und seiner großen Kamera gegenüber, animiert, den Kopf „noch etwas zur Seite“ zu nehmen. Klick.
Noch zwei, drei Einstellungen. Fertig.
Und dann die Vorfreude auf den fernen Tag, an dem die Bilder endlich abgeholt werden können….
Bei allen Segnungen heutiger Sofortbild- und Digitalfotografie ist zumindest dieser schöne Teil verlorengegangen: sich mit Geduld vorfreuen zu können..

Zum Vergrößern bitte anklicken.

Herrn Grundmanns Laden in Gelsenkirchen-Erle auf der Cranger Strasse.Nach 61 Jahren schloss dieses Geschäft im Jahr 2010. Die Digitalfotografie…

Als kleiner Knirps stand ich in den 60er Jahren immer gern vor dem Grundmann`schen Schaufenster.
Zum einen, weil hier Erler Menschen schön und kunstvoll abgelichtet zu betrachten waren,
über die wir manchmal kicherten, wenn wir sie kannten.
Und dann gab es noch die großen Fotos erfolgreicher Erler Brieftauben, umrahmt von Urkunden und Siegerpokalen. Fotos von Brieftauben? Ja, man nannte sie auch die Rennpferde des Bergmanns. Typisch fürdas Ruhrgebiet.
Und irgendwann war im Grundmann´schen  Schaufenster eine kleine silberfarbene Kamera ausgestellt, die höchstens so groß war, wie die dicke Zigarre vom alten Gastwirt Strohmann oder die vom dicken Ludwig Erhard.
Uns kleinen „Kötteln“ war damals klar, daß das natürlich eine echte „Geheim-Kamera für Spione“ war, ohne dabei wirklich richtig gewußt zu haben, was ein Spion überhaupt ist.
Auch gab es draußen neben dem Ladeneingang einen schwarzen Filmautomaten mit dem Markenzeichen von AGFA.
Der ist mir nur deshalb unvergeßlich geblieben, weil er zwei Sorten von Münz-Einwurfschlitzen besaß: einen für „DM-West“ und einen für „Ostmark“.
Doch am interessantesten und bis heute in Erinnerung geblieben war für mich der untere Bereich des alten Schaufensters von Foto Grundmann:
hier befand sich damals über die gesamte Fensterbreite ein länglicher Rahmen, in den über viele Jahre in wechselnder Folge eine gute Anzahl aktueller, spannender „Pressefotos aus aller Welt“ nebeneinander eingeschoben und zu bestaunen waren.
Sensationen, Autorennen, Krieg, Tiere, Mißwahlen, Katastrophen, Filmstars, Technik, neueste Erfindungen: alles in schwarz-weiß und mit einem Text darunter:

Weltnachrichten bei Herrn Grundmann in Erle, dem kleinen grauen Bergarbeiternest…

Lothar Lange

Über Lo

Wer im Schatten des Förderturms der Gelsenkirchener Kohlenzeche Graf Bismarck aufgewachsen ist – zu einer Zeit, als man tatsächlich noch vom “schwatten Kohlenpott” sprechen konnte, weil damals “Wäsche auffe Leine” nicht lange weiß blieb, wer sommerliche Badefreuden nicht am blauen Meer, sondern am Ufer des Rhein-Herne-Kanals – der so genannten “Frikadellen-Riviera” – genoss und sich als Kind über “Hasenbrot” freute, was in Wirklichkeit nichts anderes war, als die wieder mit nach Hause gebrachten Stullen, die vom Vater als Bergmann unter Tage nicht aufgegessen wurden, wer schon als kleiner Knirps ganz stolz für 50 Pfennige Belohnung 20 Zentner regelmäßig vor dem Haus angelieferte “schwatte” Deputatkohle in den Keller schippte, der hatte eine vielleicht arme, aber trotzdem abenteuerliche und schöne Kindheit zur Zeit der Pettycoats und des Wirtschaftswunders. Meine Wurzeln sind der Kohlenpott und seine Menschen mit ihrem besonderen, grund”ährlichen” Charme... Gezz weisse ´n bissken Bescheid, oder?
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4 Antworten zu Bitte recht freundlich!

  1. Manfred Voita schreibt:

    Ost- und Westmark? Das habe ich nie gesehen. Oder einfach übersehen. Fotoläden… also ich war als Baby schon Objekt fachfotografischer Bemühungen. Aber würde man mir erzählen, dass da ein anderes Kind fotografiert worden wäre, ich würde es glauben. Diese Fotos waren immer so allgemeingültig, fast genormt. Das wurde eigentlich nie wirklich besser. Ich erinnere mich an Bewerbungsfotos aus den Neunzigern, bei denen meine Tochter fragte, wer denn der Mann auf dem Foto wäre.

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  3. Jules van der Ley schreibt:

    Erstaunlich, lieber Lo, dass du Fotos von Herrn Grundmann und seinem Laden aufgetrieben hast. Was du so schön beschreibst, die schwierigen Zugangsbedingungen zur Welt der Fotografie, kenne ich auch. Es existieren kaum Fotos aus KIndheit und Jugend. Ich erinnere mich, dass in meiner Kindheit zu uns der Fotograf Schlangens Hein kam, seine Stativkamera aufstellte und uns drei Kinder auf dem Sofa platzierte. Mein älterer Bruder musste einen großen Bronzeschlüssel halten, (in dem ein Korkenzieher versteckt war) und ich bekam einen Ball in den Arm. Dann kroch Schlangens Hein unter ein Tuch und rief: „Gleich kommt das Vögelchen!“, was ich gelogen fand.

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  4. Lakritze schreibt:

    Schon ohne die Bilder eine Wucht; mit umso mehr. Danke für die Zeitreise.

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